West-östlicher Divan - Goethe im Orient - Rezitation live
Lob von Heine
Heinrich Heine (1797 - 1856) schreibt: „Den berauschendsten Lebensgenuß hat hier Goethe in Verse gebracht, und diese sind so leicht, so glücklich, so hingehaucht, so ätherisch, dass man sich wundert, wie dergleichen in deutscher Sprache möglich war.“
Bei so viel Lob über Goethes Spätwerk von 1819 - Goethe ist 70 - erscheint es merkwürdig, dass der „Divan“ selbst unter Lyrikfreunden wenig gilt - in erster Linie wohl, weil er nicht sonderlich bekannt ist. Verantwortlich dafür ist zunächst das sperrige Wort „Divan“. Was ist ein Divan bzw. Diwan? „Divan“ kommt aus dem Persischen und bedeutet hier Gedichtsammlung.
Ein weiterer Grund könnte der Umstand sein, dass die Gedichte des West-östlichen Divan in der Schule nicht auf dem Lehrplan stehen. Wir kennen Goethe, ja. Wir lesen Goethes Balladen, später „Die Leiden des jungen Werther“ und wenn die Zeit reicht den „Faust“. Den Divan lesen wir nicht, weil er wohl den Rahmen dessen sprengt, was man Schülerinnen und Schülern zumuten möchte.
Denn trotz seiner „Leichtigkeit“ (Heine) ist es nicht leicht, Goethes Divan auf Anhieb zu verstehen. Ein anderer Dichter, Hugo von Hofmannsthal (1874 - 1929), lobt den Divan auch, macht uns aber nicht gerade Lust, diese Gedichte zu lesen:
"Dieses Buch ist völlig Geist; es ist ein Vorwalten darin dessen, was Goethe das obere Leitende genannt hat ... eines von den Büchern, die unergründlich sind, weil sie wahre Wesen sind, und worin jegliches auf jegliches deutet, so daß des inneren Lebens kein Ende ist."
Das hört sich eher schwierig an, komplex, vertrackt, ist es aber gar nicht!
Entstehung und Hintergrund: West-östlicher Divan
Goethes West-östlicher Divan wird durch das Werk des persischen Dichters Hafis (ca. 1315 – 1390) inspiriert, genauer gesagt durch Hafis' „Diwan“ und zwar in der deutschen Übersetzung des Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall. Goethe gehört 1814 zu den ersten Lesern. Im Dialog mit dieser reich kommentierten Ausgabe verfasst Goethe seine Gedichtsammlung und lässt seinen Divan 1819 in Stuttgart von Cotta drucken und verlegen.
Anders als der britische Schriftsteller und Dichter Rudyard Kipling („Ost ist Ost, West ist West, sie werden nie zueinander kommen“) begegnet Goethe Hafis Dichtung mit uneingeschränkter Begeisterung:
Wer sich selbst und andere kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.
Obwohl Goethe und Hafis einige Jahrhunderte trennen, dichtet Goethe hingebungsvoll weiter:
Und mag die ganze Welt versinken,
Hafis mit dir, mit dir allein
Will ich wetteifern! Lust und Pein
Sei uns, den Zwillingen, gemein!
Wie du zu lieben und zu trinken,
Das soll mein Stolz, mein Leben sein.
Die Bedeutung von Wein im West-östlichen Divan
Zu den wiederkehrenden Themen der Hafis-Gedichte gehören unerwiderte Liebe, Trennung und Sehnsucht. Er schreibt über die Vergänglichkeit und die Unvermeidbarkeit des Schicksals sowie der Suche nach dem Sinn des Lebens. Dass diese Bemühungen oft beim Wein enden, verwundert vielleicht.
Während man Hafis' Gedichte im Okzident oft wörtlich nimmt, werden sie im Orient, genauer im persisch-islamischen Kulturkreis, wo der Genuss von Wein als verboten bzw. als religiös unerwünscht gilt, in der mystischen Dichtung allegorisch verstanden. So benutzt Hafis - wie nach ihm Goethe - die Metapher des Weins, die bei den Sufis für die Berauschtheit eines Derwischs durch die Liebe Gottes steht, immer wieder mit großer Andacht.
In Goethes Divan werden die beiden Aspekte des Weingenusses: Zechen und religiöse Berauschtheit - aufs Schönste verbunden:
Wenn der Körper ein Kerker ist
Warum nur der Kerker so durstig ist?
Seele befindet sich wohl darinnen
Und bliebe gern vergnügt bei Sinnen;
Nun aber soll die Flasche Wein,
Frische eine nach der anderen herein.
Seele will nicht länger ertragen,
Sie an der Türe in Stücke zu schlagen.
Das Buch Suleika
Für Frankfurt am Main und überhaupt alle Freunde der Liebeslyrik hat das Buch Suleika höchste Priorität.
Marianne von Willemer, die Ehefrau des Frankfurter Bankiers Johann Jakob von Willemer, war nicht nur das Vorbild der Suleika, Goethe ließ zudem drei ihrer Gedichte in den West-östlichen Divan abdrucken. Diese entstanden während seiner Sommerfrische von Mitte August bis Mitte September 1815 auf dem Landhaus der Willemers, der Gerbermühle, und zwar:
- Hochbeglückt in deiner Liebe (Buch Suleika: Suleika)
- Was bedeutet die Bewegung (Ostwind)
- Ach, um deine feuchten Schwingen (Buch Suleika: Westwind)
Oktober 1815, von Frankfurt am Main nach Weimar zurückgekehrt, schreibt Goethe einem Freund, er könne „mit Vergnügen melden, daß für den Divan sich neue, reiche Quellen aufgetan, so daß er auf eine sehr brillante Weise erweitert worden.“
Für Johann Wolfgang Goethe ist es das erste und einzige Mal, dass eine Frau zur Mitschöpferin seiner Dichtung wird. Zur Gedichtsammlung „Sesenheimer Lieder“ hatte schon Goethes Freund Jacob Reinhold Michael Lenz viele Verse beigesteuert.
Sowohl Goethe als auch Marianne schweigen über die wahre Urheberschaft der drei Gedichte aus ihrer Feder. Die wird erst posthum bekannt, und zwar durch den Germanisten Hermann Grimm, den Sohn des „Märchenerzählers“ Wilhelm Grimm, der Marianne kurz vor ihrem Tod (1860) zu Johann Wolfgang Goethe befragt.
Am 10. Februar 1832 sendet Johann Wolfgang Goethe Mariannes Briefe nach Frankfurt am Main zurück mit der Bitte, das Paket erst nach seinem Tode zu öffnen. Marianne / Suleika findet neben ihren Briefen ein neues Gedicht:
Vor die Augen meiner Lieben,
Zu den Fingern, die’s geschrieben -
Einst mit heißestem Verlangen
So erwartet, wie empfangen –
Zu der Brust, der sie entquollen,
Diese Blätter wandern sollen:
Immer liebevoll bereit,
Zeugen allerschönster Zeit.
Faszniation West-östlicher Divan: ein Goethe-Werk, das zeigt, wie eng Leben und Poesie miteinander verwoben sind.
Übrigens: Dichterkollege Friedrich Rückert (1788 - 1866) bezieht sich nur drei Jahre später in seinem Gedichtband "Oestliche Rosen" (1822) bewundernd und sehr geistreich auf Goethes Divan:
Wollt ihr kosten
Reinen Osten,
Müßt ihr gehn von hier zum selben Manne,
Der vom Westen
Auch den besten
Wein von jeher schenkt’ aus voller Kanne.
Als der West war durchgekostet,
Hat er nun den Ost entmostet;
Seht, dort schwelgt er auf der Ottomanne.