Goethe Live – REZITATion – FRANKFURT AM MAIN

Was für ein Geschenk!


Warum lesen wir Gedichte?

Alle, die Gedichte lesen, wissen: Gedichte entschleunigen uns, schärfen die Sinne und erlauben uns, die Welt in ihrer Komplexität und Schönheit zu erfassen. Sie fordern uns auf, genauer hinzusehen, zwischen den Zeilen zu lesen und Empfindungen nachzuspüren, die im Alltag oft untergehen. Dichter gießen Schlüsselerlebnisse menschlichen Erfahrens in eine schöne sprachliche Form – und wir erkennen uns in den Versen wieder.


Goethe

Goethe schafft es mit „Klärchens Lied“, in nur 23 Worten die Dualität des Phänomens Liebe darzustellen.

Freudvoll
Und leidvoll
Gedankenvoll sein,
Langen
Und bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt;
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt.


Marcel Reich-Ranicki feiert Goethe zu Recht als Kenner der menschlichen Psyche: „Nur derjenigen Liebe, die auch gefährdet, also unsicher ist, verdankt der Mensch das höchste Glück. Die Angst erscheint somit nicht bloß als eine unvermeidbare Begleiterscheinung der Liebe, sondern als ihr Fundament und ihre Voraussetzung.“


Hesse

Das Lesen von Gedichten fördert die Kreativität und regt die Fantasie an. Ein Beispiel ist Hermann Hesses Gedicht „Stufen“, das den Prozess des Wandels und der ständigen Erneuerung des Lebens beschreibt und zu einer überraschend schönen Schlussfolgerung kommt:

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.


Hesses Gedicht spendet uns Inspiration und Trost. Es motiviert uns dazu, Veränderungen als Chancen wahrzunehmen. Die poetische Sprache lässt uns den Neuanfang als etwas Magisches empfinden und öffnet so neue Perspektiven auf unser eigenes Leben.


Mörike

Gedichte spielen mit Sprache und Rhythmus. Sie schärfen das Bewusstsein für Worte und deren Klang, was die Freude an der Sprache erhöht. Im Gedicht „Er ist’s“ gelingt es Eduard Mörike, das Phänomen Frühling mit spielerischer Leichtigkeit zu beschreiben:

Frühling lässt sein blaues Band
Wieder flattern durch die Lüfte;
Süße, wohlbekannte Düfte
Streifen ahnungsvoll das Land.


Die rhythmische Abfolge und der Klang der Worte lassen das Gedicht fast wie Musik erscheinen, was das Lesen selbst zu einem ästhetischen Erlebnis macht.


Heine

Heinrich Heines Verse über die Loreley sind vielen vertraut und lösen eine Art kollektiver Erinnerung aus, wobei jede Erinnerung immer eine individuell andere ist.

Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin;
Ein Märchen aus alten Zeiten,
Das kommt mir nicht aus dem Sinn.

Durch Gedichte wie dieses teilen wir eine gemeinsame emotionale Landschaft und einen kollektiven kulturellen Schatz.


Hölderlin

Gedichte helfen uns, die Welt bewusster wahrzunehmen. Mit ihrer Hilfe können wir auch über unsere Ängste sprechen. Ein Beispiel hierfür ist Friedrich Hölderlins Gedicht „Hälfte des Lebens“:

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm’ ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Hölderlin nutzt den Blick auf die Natur im Winter, um tiefgreifende Gefühle der Isolation und des Verlorenseins auszudrücken.


Eichendorff

Ein Gedicht kann uns für einen Moment innehalten lassen, wie Eichendorffs „Mondnacht“:

Es war, als hätt’ der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt’.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis’ die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.

Thomas Mann nennt Eichendorffs Gedicht „Perle der Perlen“ und sieht in der „Mondnacht“ eine exemplarische Darstellung der romantischen Weltanschauung, in der die Grenzen zwischen dem Irdischen und dem Überirdischen aufgehoben scheinen.


Gedichte sind also eine Möglichkeit, das Leben tiefer und bewusster zu erfahren. Die Integration von Gedichten in den Alltag kann unsere Empathie fördern, Kreativität anregen, die Wertschätzung für Sprache steigern, Verbindungen zu anderen schaffen und uns helfen, achtsamer zu sein.