Goethe live – Rezitation – Frankfurt am Main

Goethe live - Rezitation - Frankfurt am Main    

1774. Als die jungen Genies die Freiheit suchten

Simone Francesca Schmidt
Südverlag; 1. Edition (7. März 2022)

ISBN-10 : ‎ 387800155X 
 

Das Jahr 1774 ist ein wichtiges Jahr für die deutsche Literatur. Goethe veröffentlicht „Die Leiden des jungen Werthers“ und wird praktisch über Nacht zum Superstar. Warum eigentlich? Bei heutiger Lektüre fällt es nicht gerade leicht, sich auf das Pathos von Goethes Briefroman einzulassen. Der wichtigste Grund für den Erfolg 1774 ist, dass Goethe mit dem „Werther“ das Lebensgefühl seiner Generation auf ideale Weise einfängt.

Gefühl statt Aufklärung

Die Akteure des Sturm und Drang haben keine Lust mehr, die Leser*innen aus ihrer „selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien“ (Kant), d.h. moralisch zu bilden oder Vernunft zu predigen. Ganz im Gegenteil: Gefragt sind Empfindsamkeit, Entfesselung des Gefühls, Individualität und scharfe gesellschaftliche Kritik. Goethe schafft das mit dem Werther.

Wir müssen damit rechnen, dass im März 2024, pünktlich zum 250. Jubiläum der Erstveröffentlichung des Werthers, wieder Lobeshymnen auf den jungen Goethe angestimmt und Schmuckausgaben gedruckt werden. Dagegen ist nichts zu sagen. Das ist schön. Goethe hat das verdient. Ich empfehle jedoch, vorher das Buch von Simone Francesca Schmidt zu lesen. Sie relativiert Goethes Leistung, ohne Goethes Talent zu schmälern.

Goethe und viele andere

Dabei wird klar: Goethe ist nicht der einzige Genius, der zu dieser Zeit stürmt und drängt. Und man kann getrost davon ausgehen, dass Goethe ohne seinen Freundeskreis, ohne Gleichgesinnte wie Herder, Merck, Lenz oder Klinger, seine Peergroup, und ein begeisterungsfähiges, mitfühlendes Publikum den Werther wohl nicht geschrieben hätte. Was sind das für Geister, die Goethe zu Höchstleistungen anspornen? Simone Francesca Schmidt bringt sie uns auf 300 Seiten näher, einige Beispiele:

Herder

Johann Gottfried Herder ist mit Goethe seit seiner Straßburger Zeit (1770 – 1771) befreundet und gilt als Vordenker der Sturm-und-Drang-Dichtung. Er bewertet Poesie desto höher, je näher sie der Natur steht. Daraus folgten seine bahnbrechenden Überlegungen, altnordische Mythen und die Dichtungen der Minnesänger zu revitalisieren, auch Volkslieder zu sammeln. Goethe steuert nach zahlreichen Exkursionen ins elsässische Hinterland schließlich die Ballade vom „Heidenröslein“ zu Herders Anthologie bei, muss ihm aber schließlich beichten, dass er die Ballade nicht im Volk gefunden, sondern einfach erfunden hat.


Merck

Johann Heinrich Merck wirkt als Herausgeber der Frankfurter Gelehrten Anzeigen, einer Zeitschrift für Literaturkritik, für die auch Goethe schreibt. Merck wird zu einem großen Förderer von Goethes Frühwerk, speziell für den Götz von Berlichingen und natürlich den Werther-Roman. Außerdem ist das Merck’sche Haus in Darmstadt Treffpunkt des Kreises der Empfindsamen, dessen Mitglied Goethe ist. In Darmstadt wird viel geweint, aber auch geliebelt.

 
Lenz

Jakob Michael Reinhold Lenz lernt den um eineinhalb Jahre älteren Goethe und andere Sturm-und-Drang-Dichter wie Heinrich Leopold Wagner oder Johann Heinrich Jung-Stilling ebenfalls Straßburg kennen. Goethe nennt Lenz „einen trefflichen Jungen, den ich wie meine Seele liebe“. „Der Hofmeister“, 1774 von Lenz geschrieben, und Goethes „Götz“ sind die wichtigsten dramatischen Werke der frühen Sturm-und-Drang-Dramatik.


Lavater

Ein anderer Geist, der Goethe „influenzt“, ist Johann Caspar Lavater. Der Theologe, Philosoph, Schriftsteller macht sich am 12. Juni 1774 von Zürich aus auf den Weg zu einer Kur nach Bad Ems. Vorher besucht er Goethe in Frankfurt am Main. Gemeinsam fahren Sie mit dem Schiff den Rhein bis Bonn hinunter. Mit an Bord: Johann Bernhard Basedow, ebenfalls Schriftsteller, aber auch Theologe. Der macht eigentlich Fund-Raising für seine Reformschule in Dessau, eine „Pflanzschule der Menschheit“, hat aber Lust mit Lavater über Gott und die Welt zu streiten. Lavater sieht sich schließlich genötigt, den Theologen Basedow zum Christentum zu bekehren. Das ist sehr komisch zu lesen.

Soziales Netzwerk 

Worüber wir staunen, wenn wie Simone Francesca Schmidt sorgfältig zusammengestellte Jahreschronik für das literarische Jahr 1774 lesen, wie gut das soziale Netzwerk der Stürmer und Dränger funktioniert. Ihr Medium ist der Brief. Aber sie sind auch ständig auf Achse, um persönliche Bekanntschaften zu vertiefen oder eine Brieffreundschaft in Freundschaft umzuwandeln.


Auf der Suche nach Glück

Wenn die jungen Genies Freiheit suchen, ist es die Freiheit, Unbekanntes zu denken und Ungesagtes auszusprechen. In einem sozialen Sinne heißt Freiheit, sich aus Bindungen und Abhängigkeiten zu lösen, die man als falsch erkennt, weil sie die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit oder die Möglichkeit, glücklich zu sein, verhindern. Die Stürmer und Dränger haben hier tatsächlich im Sinne der Aufklärung gehandelt – aber mit sehr viel Gefühl! 


Perfekt für den Unterricht

„1774“ ist eine ideale Möglichkeit, um in die Zeit des Sturm und Drang einzutauchen. Beim nächsten „Tauchgang“ ist es wichtig, Romane, Dramen und Gedichte zu lesen. Und dann immer mal wieder „1774“ zur Hand nehmen, um Wechselwirkungen zu erkennen und bestimmte Situationen chronologisch besser einordnen zu können. Ein schönes, kurzweiliges und praktisches Buch - gerade auch für die Schule. Schmidt zeigt, wie innig Erleben und Alltagsleben der Dichter mit ihren Werken verbunden sind.